Pınar Selek
WIENER GESPRÄCHE/09: Begegnungen am roten Rand Wiens - Teil 9 (SB)


Interview mit der türkischen Friedensaktivistin Pinar Selek

An der Podiumsdiskussion "Krise und Perspektiven sozialer Bewegungen in der Türkei", die anläßlich des Jubiläumsabends der marxistischen Zeitschrift Grundrisse am 10. Juni im Restaurant Etap in Wien stattfand, nahm die Friedensaktivistin Pinar Selek teil, die eigens dafür von Istanbul in die Hauptstadt Österreichs gereist war. Die Frauenrechtlerin ist in ihrem Heimatland und weit darüber hinaus bekannt, seit der türkische Staat sie bei ihrer Arbeit als Anthropologin und Soziologin wegen der vermeintlichen Unterstützung des "Terrorismus" massiv drangsaliert und erfolglos versucht, sie einzuschüchtern. Im Anschluß an die Grundrisse-Diskussion erklärte sich Selek bereit, am darauffolgenden Tag einige Fragen der Schattenblick-Redaktion zu ihrem Fall, ihrer Arbeit sowie zur aktuellen Lage in der Türkei zu beantworten. Sena Dogan, die Mitglied des Österreichisch-Türkischen Wissenschaftsforums ist und die ebenfalls an der Podiumsdiskussion teilgenommen hatte, bot an, nicht nur beim Gespräch die Rolle der Dolmetscherin zu übernehmen, sondern dafür auch noch ihre Wohnung zur Verfügung zu stellen. Deshalb möchte sich der Schattenblick an dieser Stelle bei Frau Dogan herzlichst bedanken, ohne deren großzügige Hilfe das folgende Interview nicht zustandegekommen wäre.

SB: Okay, wir beginnen mit einer ganz einfachen Frage. Was war der Anlaß für Sie, an der gestrigen Veranstaltung teilzunehmen?

Pinar Selek: Die Grundrisse haben mich eingeladen. (lacht)

SB: Sehr gut. (lacht ebenfalls) Gab es Schwierigkeiten bei der Ausreise aus der Türkei, wo doch Ihr Fall neu aufgerollt wird?

PS: Nein, es gab keine Probleme, denn ich habe schon lange einen Paß, der mit einem Langzeitvisum versehen ist, und mein Fall ist noch nicht soweit vorangeschritten, daß es zu einem Ausreiseverbot gekommen wäre. Zwar hat der Berufungsgerichtshof den Fall wieder aufgenommen, aber es gibt noch keinen Verhaftungsbeschluß. Eigentlich bin ich bereits zweimal freigesprochen worden, doch die Staatsanwaltschaft hat vor kurzem erneut Revision eingelegt.

Ich vergleiche meinen Fall manchmal mit dem von [Georgi Michailow] Dimitrow, dem man [1933 kurz nach der Regierungsübernahme durch die Nazis in Deutschland] den Reichstagsbrand angehängt hat. Im Juli 1998 hat man mich wegen des Vorwurfs, die PKK zu unterstützen, festgenommen. Im Zuge der Ermittlungen hat man eine Reihe von Verhafteten dazu gebracht, unter anderem im Fernsehen zu erklären, daß sie gemeinsam mit mir in Istanbul einen tödlichen Bombenanschlag durchgeführt hätten. Deswegen saß ich zweieinhalb Jahre im Gefängnis und wurde auch noch gefoltert. Zwar ist die damalige Explosion inzwischen längst aufgeklärt worden, denn es steht nach mehreren Gutachten fest, daß sie auf eine undichte Propangasflasche zurückging, doch die Staatsanwaltschaft verfolgt mich heute immer noch wegen der vermeintlichen Nähe zur PKK, was auf den Falschaussagen von damals basiert.

SB: Nun, der Vergleich mit dem Fall Dimitrow hinkt insofern, als daß das Abfackeln des Reichstages ein weltbewegendes Ereignis war, während die Explosion einer Propangasflasche, wenn auch tragisch, daß dadurch sieben Menschen das Leben verloren, eigentlich eine relativ kleine Sache gewesen ist. Von daher stellt sich die Frage, warum Ihr Fall so hochgehängt wird? Warum ist es für den türkischen Staat so wichtig, Ihnen das Leben schwer zu machen?

PS: Es gibt zwei Gründe dafür. Erstens ging zum damaligen Zeitpunkt die Regierung in Ankara massiv gegen die PKK vor. Unter Kriegsandrohung zwang die Türkei im Oktober 1998 Syrien dazu, den PKK-Chef Abdullah Öcalan auszuweisen, worauf dessen mehrmonatige Odyssee über Rußland, Italien und Griechenland folgte, die im Februar 1999 mit der spektakulären Festnahme in Kenia und anschließenden Überführung in die Türkei endete. Der vermeintliche Anschlag im Herzen von Istanbul, den ich zusammen mit anderen im Namen der PKK durchgeführt haben soll, spielte damals bei der diplomatischen und medialen Offensive der türkischen Regierung gegen Öcalan eine nicht geringe Rolle.

Zweitens ist es so, daß ich nicht nur eine Intellektuelle, sondern, da ich aus dem Westen der Türkei komme, auch eine "weiße Türkin" bin, die die PKK als Tatsache betrachtet und diese damit aus Sicht des türkischen Sicherheitsapparats auch akzeptiert. Das war der eigentliche Stein des Anstoßes. Um eine solche Haltung eines Menschen meiner Herkunft demonstrativ zu bestrafen, sind sie gleich so scharf gegen mich vorgegangen.

SB: Also werden Sie dafür bestraft, ein abtrünniges Mitglied der Funktionselite zu sein?

PS: So könnte man es formulieren. Ich denke, daß man an mir ein Exempel statuieren wollte und heute noch will, um alle anderen im Bereich der Soziologie und der Anthropologie, die vielleicht ähnliche Studien wie meine vorhaben, einzuschüchtern. Mein Fall hat Symbolcharakter, denn ich arbeitete an der Universität, hatte auch mehrere Veröffentlichungen vorzuweisen und war bereits deswegen bekannt.

SB: Also handelte es sich eine staatliche Einschüchterungsmaßnahme.

PS: Richtig, eine Einschüchterungsmaßnahme, die sich gegen alle Akademiker und Akademikerinnen in der Türkei richtet, die sich mit der Kurdenfrage oder dem Thema Militarismus beschäftigen. Doch von Anfang an hatte die Staatsanwaltschaft große Probleme, Beweise für ihre Anschuldigungen zu präsentieren. Zuerst konnte sie den Vorwurf der Unterstützung der PKK und dann den der Verwicklung in diesen vorgeblichen Bombenanschlag nicht beweisen. Es war immer wieder so, daß Leute, die verhaftet worden waren, gezwungen oder überredet wurden, für mich belastende Aussagen zu machen. Das konnten Personen sein, die irgend etwas mit den Kurden oder der PKK zu tun hatten oder auch ganz andere, wie zum Beispiel ein Mafiaboß, zu dem irgendwelche Verbindungen zu unterhalten, man mir auch unterstellte. Es kam zu den absurdesten Fällen, in denen irgendwelche Leute, die gerade angeklagt waren, plötzlich irgend etwas mit mir zu tun gehabt haben sollten. Doch bei den anschließenden Prozessen passierte es stets, daß dieselben Leute erklärten: "Nein, wir kennen diese Frau nicht. Wir haben überhaupt nichts mit ihr zu tun, aber die Polizei hat uns gezwungen, die Aussage zu unterschreiben." Also waren die Aussagen wahrscheinlich unter Folter oder ihrer Androhung zustandegekommen. Und weil es immer wieder neue Anschuldigungen gab, konnte das Verfahren gegen mich niemals richtig zu den Akten gelegt werden.

SB: Offenbar hat man versucht den Fall immer wieder zurechtzustutzen, um nicht zugeben zu müssen, daß von vornherein nichts daran war.

PS: So ist es. Aber weil sie eben nichts beweisen konnten, bin ich nach zweieinhalb Jahren im Gefängnis auf Kaution entlassen worden, während der Prozeß einfach weiterging. Nach meiner Entlassung war ich in der Frauen- und der Friedensbewegung noch aktiver als früher. Darüber hinaus hatte ich inzwischen eine gewisse Berühmtheit erlangt. Dies brachte mit sich, daß mein Engagement gegen den Militarismus noch mehr als früher wahrgenommen und damit für den Staat zu einer Art Herausforderung wurde.

SB: Sie haben 2003 einen beeindruckenden Aufsatz mit dem Titel "Ich bereue" [1] veröffentlicht. Vielleicht können Sie uns etwas über die Hintergründe dieses Schriftstücks erzählen.

PS: Es war so, daß es in jener Zeit eine Weisung vom türkischen Bildungsministerium gab, daß die Kinder in der Volksschule - die Volksschule besucht man in der Türkei übrigens die ersten acht Jahre - Aufsätze schreiben mußten, die beweisen sollten, daß die Vertreibung der Armenier bei der Staatsgründung der Republik Kemal Atatürks kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Das habe ich als Anlaß genommen, um in einer Zeitung die Lächerlichkeit dieser seltsamen Anweisung hervorzuheben. Deswegen habe ich die Vorgabe übernommen und so getan, als wäre ich ein kurdisches Kind, das in der Schule diesen Aufsatz schreiben müsse. Der Aufsatz erschien in einer Zeitung, die hauptsächlich kurdischsprachige Mädchen lesen, weswegen ich wie ein kurdisches Kind argumentieren wollte.

SB: Aber vielleicht, um darüber hinaus zu beweisen, daß man auch als "weiße Türkin" die Gefühle und Perspektiven dieser Mädchen nachempfinden kann?

PS: Genau.

SB: Sie haben in den letzten Jahren vieles, mitunter Schlimmes, durchmachen müssen und geben trotzdem in keiner Weise klein bei. Daher die Frage, woher Sie Ihre Widersetzlichkeit oder ihre Widerstandskraft hernehmen. Was sind die Motive für Ihr politisches Engagement.

PS: Nun, dafür gibt es mehrere Beweggründe. Bei uns in der Familie war die Politik immer ein wichtiges Thema. Zum einen gehörte mein Großvater zu den Gründern der türkischen Linken. Zum anderen wurde mein Vater nach dem Militärputsch 1980 fünf Jahre lang inhaftiert. Er war Anwalt und hat in den siebziger Jahren viele Linke, die entweder unter Anklage standen oder bereits verhaftet worden waren, vertreten. Viele dieser Menschen oder ihre Angehörigen kamen zu uns nach Hause, um meinen Vater zu besuchen und sich von ihm beraten zu lassen. Dadurch lernte ich bereits in jungen Jahren Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Organisationen der türkischen Linken kennen. Ab 1980 bin ich nicht wenigen im Gefängnis begegnet. Jahrelang habe ich jede Woche mit meiner Mutter zusammen den Vater im Gefängnis besucht und dort auch seine Mandanten auf dem Hof getroffen. Das wäre die eine Quelle meiner Widerstandskraft. Die zweite wäre, daß ich eine sehr glückliche Kindheit hatte und aus der Zeit viele sehr nette Freunde habe, die mir immer viel Liebe entgegengebracht haben. Von daher glaube ich, daß die Liebe etwas ist, das einem Stärke gibt.

SB: Die Explosion in Istanbul, die man ursprünglich als Vorwand benutzte, sie zu verhaften, liegt inzwischen elf Jahre und zwei Freisprüche zurück, und dennoch wird der Fall wieder aufgerollt. Könnte der Grund dafür sein, daß Ihre Studien zum Thema des Militarismus in der Türkei auch eine Bedrohung für das in Ihrem Land bekanntlich sehr mächtige Militärestablishment darstellen?

PS: Ich denke schon. Schließlich bin ich jenseits der juristischen Auseinandersetzungen um meinen Fall an die Spitze der antimilitaristischen Bewegung und der Totalverweigererbewegung gelangt. Dazu haben zwei meiner Bücher beigetragen. In dem ersten, "Wir konnten keinen Frieden schließen", untersuche ich sowohl den Militarismus des türkischen Staates als auch die Friedensbewegung oder die Widerstandsbewegung dagegen. Das zweite Buch heißt "Kriechend zum Mann werden", behandelt das Verhältnis zwischen Männerbild und Militarismus und hat nach seinem Erscheinen im letzten Jahr starke Reaktionen in der Türkei ausgelöst. Zwar wurde es in den meisten Zeitungen recht positiv besprochen und war auch schnell vergriffen, so daß eine zweite Auflage gedruckt werden mußte, dafür aber gab es von faschistischer, von rechter Seite heftige Attacken.

SB: Sie haben in "Kriechend zum Mann werden" die ganze Frage der Männlichkeit und der Gewalt ausgiebig behandelt, gleichzeitig haben Sie aufgrund Ihrer früheren Studien Einblicke in die Verhältnisse bei der PKK, die auch eine Guerillaarmee hat, in der Frauen sehr stark vertreten sind, gewonnen. Vor diesem Hintergrund wäre es interessant, von Ihnen zu erfahren, ob viele der Verhaltens- und Umgangsformen, auf die man beim herkömmlichen Militär stößt, auch bei den Fraueneinheiten oder in der Ausbildung der PKK auftreten.

PS: Zuerst einmal möchte ich sagen, daß allein, sich in eine Uniform zu zwängen, Menschen in jedem Fall häßlich macht und negative Auswirkungen auf sie hat, ganz egal, ob es Männer oder Frauen sind oder ob es für den Staat oder gegen den Staat ist. Die Frauen bei der kurdischen Guerilla erleben eine widersprüchliche Zeit. Sie berichteten mir, daß sie sich, wenn sie in die Berge gehen, automatisch sehr männlich benehmen und sich selbst wie die Karikatur eines Machos erleben.

SB: Es treten dieselben Phänomene bei den Fraueneinheiten der PKK auf, wie man sie bei der türkischen Armee auch findet. Kann man das sagen?

PS: In gewisser Weise, aber es ist schon etwas anderes, denn die Wehrdienstpflichtigen dienen aufgrund eines staatlichen Zwangs als Soldaten, wohingegen die Frauen zur kurdischen Guerilla gehen, um sich zu befreien und für die Freiheit ihres Volkes zu kämpfen. Das ist schon ein Unterschied. Man muß vorsichtig sein und die beiden Sachen nicht zu grob miteinander vergleichen, denn die Art von Hierarchie, die im türkischen Heer vorhanden ist, gibt es in den PKK-Guerilla-Einheiten nicht. Und der Anspruch ist auch ein anderer. Deshalb sind auch die Auswirkungen verschieden, wiewohl die Kämpfe für jeden Einzelnen und jede Einzelne natürlich schwierige Situationen und Erfahrungen mit sich bringen.

SB: Häufig liest man Artikel, Sachbücher oder Romane von Leuten, die ihre Zeit beim Militär und selbst im Krieg als positiv bewerten. Sie haben selbst geschrieben, daß einige Leute Ihnen gegenüber über ihre Militärzeit gesagt haben: "Ja, das war toll." Das hängt eventuell damit zusammen, daß die Vorbereitung auf den Krieg und der Krieg selbst ernster sind als der Alltag in der Zivilgesellschaft. Die Konsequenzen jeder Handlung wiegen schwerer, und das Leben des Einzelnen hängt von den Kameraden ab. Daher ist man auf den nächsten Mann oder nächste Frau mehr angewiesen als sonst. Man muß auch für den anderen mehr einstehen als sonst. Nicht umsonst ist bei allen Streitkräften das oberste Prinzip oder die höchste Tugend die Verläßlichkeit. Natürlich wird das beim herkömmlichen Militär allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz niemals eingelöst, sondern eher mißbraucht im Sinne des Kadavergehorsams. Nichtsdestotrotz würden wir von Ihnen gerne wissen, ob die Linke aus diesem Prinzip vielleicht etwas lernen oder für sich wieder reklamieren könnte, denn in linken Kreise kommt es ständig zu Spaltereien, während man bei der Gegenseite, bei den rechten "Kameradschaften", den Eindruck hat, daß sie besser organisiert sind oder daß sie besser für einander einstehen. Von daher die Frage, ob die Linke diese Art von Verläßlichkeit vom Militarismus trennen könnte, um dem etwas Positives abzugewinnen.

PS: Zweifelsohne gibt es bestimmte Vorteile des bewaffneten Kampfs gegenüber dem friedlichen Kampf. In der Türkei werden die Leute und Organisationen, die mit Waffen kämpfen, auf jeden Fall von der Bevölkerung besser angesehen und genießen irgendwie auch ein höheres Prestige. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Grund dafür ist, daß man, wenn man sich entschließt, zu den Waffen zu greifen, ein Opfer bringt. Man trennt sich von der Familie, von den Freunden, von der Schule oder verläßt die Ausbildung und geht und kämpft - immer mit der Gefahr für das eigene Leben. Man demonstriert eine eindeutige Opferbereitschaft.

Der zweite Grund ist der Mut. Und der dritte ist eben das, was Sie vorhin angesprochen haben, nämlich der Zusammenhang, der dann entsteht: das gemeinsame Vorgehen, das Vertrauen zueinander, die ganz besondere Freundschaft. Und ein nicht geringer Teil der Bevölkerung sagt sich, daß diejenigen, die nicht bewaffnet kämpfen, viel reden, aber eigentlich nichts tun, während die, die zu den Waffen greifen, nicht soviel reden, aber immerhin etwas tun. Gleichzeitig darf man nicht aus den Augen verlieren, daß der Krieg oder die bewaffnete Auseinandersetzung nicht nur diese positiven Seiten wie Opferbereitschaft und Freundschaft hat, sondern daß man dabei auch viel bei sich selbst zerstört. Von daher ist die bewaffnete Auseinandersetzung für die Gesellschaft, insgesamt und langfristig gesehen, keine Bereicherung.

Deswegen ist es für die Friedensbewegung erforderlich, eigene alternative Werte zu schaffen, um in der Konkurrenz zur bewaffneten Auseinandersetzung bestehen zu können. Denn in der Friedensbewegung geht es nicht nur um Frieden per se, sondern darum, daß die Menschen einander vertrauen können und untereinander Solidarität, Freundschaft und Verläßlichkeit pflegen. Daher müssen wir dafür sorgen, daß nicht immer der bewaffnete Kampf als höherwertiger gilt und die darin geschlossenen Freundschaften oder Bündnisse als verläßlicher als die der Friedensbewegung angesehen werden. Wir müssen mit den ganzen Klischees, wonach Frauen den Frieden und die Männer den Krieg symbolisieren, wonach Frieden und Ängstlichkeit beziehungsweise Krieg und Mut automatisch zusammengehören, oder daß Friedensbefürworter zu viel drumherum reden, während die Kriegsseite Tatsachen schafft, aufräumen. Denn eigentlich ist es nicht so, daß die Friedensbewegung oder der Antimilitarismus von vornherein passiv wäre. Leider aber ist es meistens der Fall, daß sie sich häufig in Form von Protestaktionen manifestieren und damit immer in Reaktion auf den Gegner sind. Deshalb meine ich, daß die Friedensbewegung aus dieser Passivität herauskommen und aktiver werden muß, um ihre Ziele durchzusetzen.

SB: Das Nein der Türkei zur Teilnahme am Irakkrieg, das damals die US-Neokonservativen, allen voran den damaligen Stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, in Rage versetzt hat, scheint auf dem ersten Blick ein großer Erfolg für die türkische Friedensbewegung gewesen zu sein. Stimmt das? War es tatsächlich ein Sieg für die Friedensbewegung?

PS: Das kann man vielleicht sagen, denn es herrschte in der türkischen Gesellschaft gegenüber dem geplanten Irakkrieg eine breite Ablehnung vor, die nicht nur die Linke und die Friedensbewegung, sondern auch die Liberalen und weite Teile des rechten Lagers erfaßte. Deswegen mußte die regierende AKP von Ministerpräsident Reccep Tayyip Erdogan einsehen, daß sie niemals wiedergewählt worden wäre, hätte sie da trotzdem mitgemacht.

SB: Entschuldigung, wenn wir die Frage kurz ergänzen. Könnte es vielleicht gewesen sein, daß auch wichtige Teile des türkischen Offizierskorps entschieden haben, daß sie nicht am anglo-amerikanischen Überfall auf den Irak teilnehmen wollten?

PS: Der größere Teil des Militärs und der staatlichen Bürokratie wollte am Irakkrieg teilnehmen, damit die Türkei bei einer Neuaufteilung im Nahen Osten nicht zu kurz kommt und um der Zusammenarbeit zwischen den USA und den Kurden im Nordirak einen Riegel vorzuschieben. Nur ein kleiner Teil lehnte das ganze als gefährliches Abenteuer ab.

SB: Also war es für den sogenannten Sicherheitstaat eine Niederlage, woraufhin sich die Frage stellt, ob es mittel- oder langfristige Auswirkungen auf die türkische Gesellschaft hatte.

PS: Nun, es wurde nicht nur das Militär, sondern auch der Teil der Gesellschaft und des Staatsapparats, der eine Beteiligung der Türkei am Krieg befürwortete, überstimmt und besiegt. Die wichtigste Folge war, daß für alle ersichtlich wurde, daß, wenn wirklich viele zusammenarbeiten, sie den Lauf der Dinge ändern können. Aber das Gefühl des Sieges oder des Erfolges währte nicht lange, denn wenn man wie die türkische Linke seit so vielen Jahren immer einen auf den Deckel bekommt, dann hebt eine einmalige Sache wie diese das alles nicht auf.

SB: Vor dem Hintergrund Ihrer Kenntnisse über die Rolle der Frauenkämpfer bei der PKK und Ihrer Auseinandersetzung mit dem Militarismus in der Türkei würden wir Sie gerne zu einem Phänomen fragen, das sich in den letzten Jahren in den urbanen Zentren der Industriestaaten bemerkbar gemacht hat. Die Rede ist einerseits von den sogenannten "Metrosexuals". Das sind in erster Linie heterosexuelle Männer, die sich sehr um Mode, Kosmetik und ihr Aussehen kümmern, und wenn sie vielleicht traurig sind, dann können sie auch ein bißchen weinen. Der englische Fußballstar David Beckham gilt hier als Paradebeispiel. Wie er werden männliche Mannequins immer stärker als Lustobjekte behandelt. Andererseits gibt es, in Großbritannien besonders stark, einen Parallelaspekt dieses Phänomens, wo sich junge Frauen in Gruppen wie aggressive, ungehobelte Männer benehmen. Sie gehen abends zusammen auf die Piste, lassen sich vollaufen und liefern sich anschließend mit anderen in der Disco oder mit der Polizei auf der Straße eine Prügelei. Solche Frauen nennt man "Ladettes", denn in England ist ein "Lad" jemand, der ein loses Mundwerk hat und es mit jedem aufnimmt. Und eine "Ladette" ist eine Frau, die ebenfalls mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hält und es, und sei es mit ihrer Clique zusammen, mit jedem aufnimmt. Inwieweit kann man hier von einem neoliberalen Aufbrechen der Geschlechtertrennungslinie zwecks noch verbesserter Ausbeutung des einzelnen, unabhängig ob Mann oder Frau, sprechen?

PS: Zuerst einmal, bei dem, was Sie hier ansprechen, werden nicht wirklich die Rollen von Männern und Frauen getauscht. Mit diesen "Metrosexuals" ist eine viel kompliziertere Situation entstanden, so daß die früheren Identitätshülsen jetzt nicht mehr so stimmen. Das hat vermutlich mit der Postmoderne zu tun. Denn der einzelne Mensch, egal ob Mann oder Frau, ist heutzutage einer viel stärkeren Verwertung unterworfen als früher. Um diesem Ausbeutungsdruck gerecht zu werden, fühlen sich die Frauen manchmal veranlaßt, sich wie Männer zu benehmen und umgekehrt. Ich stelle mir das so vor, daß es, wie früher die Arbeiterschaft oder die Kolonien in Übersee ausgebeutet wurden, heute die Menschen selbst sind; jedes einzelne Individuum wird vom kapitalistischen System sozusagen kolonisiert und verwertet.

SB: Wobei die Zwänge für den einzelnen zugenommen haben. Hat man früher gewußt, jetzt verhalte ich mich in der einen Situation so und in der anderen so, weiß man heute zum Beispiel in einer Not- oder Krisenlage gar nicht mehr, ob man weinen oder den starken Mann herauskehren soll. Man weiß nicht mehr genau, welches Verhalten von einem erwartet wird, und ist dadurch verunsichert.

PS: Und genau deswegen sind die Menschen heutzutage so leicht über die Medien zu beeinflussen, egal, ob es staatliche Manipulationen oder die Werbebotschaften der Privatindustrie sind.

SB: Der Neoliberalismus und der Islam - sind sie vereinbar? Die Staaten am Persischen Golf zum Beispiel gelten als aufstrebende Wirtschaftsmächte, wobei die Ausbeutung der ausländischen Gastarbeiter aus Ländern wie Indien oder Pakistan dort sehr stark ist. Inwieweit könnte der Islam, obwohl er in der Erscheinungsform des sogenannten Islamismus momentan als Gegner des Neoliberalismus hochgehalten wird, der Globalisierung als Vehikel dienen?

PS: In der Türkei hat derzeit der fundamentalistische Islam weniger zu melden als sein christliches Pendant in den USA, wo inzwischen in manchen Bundesstaaten die Abtreibung teilweise verboten wird. Das kann im Moment kein Islamist in der Türkei ernsthaft verlangen, also besteht aktuell keine Gefahr eines Abtreibungsverbots. Im Grunde genommen spielt die AKP von Premierminister Erdogan in der Türkei dieselbe nationalkonservative Rolle wie die CDU von Kanzlerin Angela Merkel in Deutschland oder die UMP von Präsident Nicolas Sarkozy in Frankreich. Es gibt radikale Teile der türkischen Linken, die vor allem wegen des Islamismus einen Kampf mit der AKP führen möchten. Meines Erachtens aber ist es der falsche Ansatz, ausgerechnet die religiöse oder islamistische Seite der AKP anzugreifen. Wichtiger wäre es, sie wegen der von ihr ausgehenden Angriffe auf die Sozialgesetzgebung zu bekämpfen. Die von der AKP in die Wege geleiteten Veränderungen bedeuten, daß traditionelle, positive Aspekte der staatlichen sozialen Sicherung der neoliberalen Marktideologie geopfert werden.

Im Grund bedienen sich die Konservativen und die Reaktionäre nicht nur in den islamisch-geprägten Ländern, sondern überall auf der Welt der Religion als Mittel. Ungeachtet des vorgeblichen Widerspruchs zwischen den USA und dem Islam geht es letztlich um die Verteilung von Ressourcen. Ursprünglich sind die verschiedenen Moslembruderschaften von den USA stark unterstützt worden, um linksnationalistische Kräfte im ganzen Nahen Osten zu schwächen. Und jetzt sind die Amerikaner dabei, sich der Islamisten zu entledigen, während diese sich dagegen zur Wehr setzen und sich zu behaupten versuchen. Aber man kann nicht sagen, wie der Konflikt ausgehen wird, denn vielleicht blickt man morgen auf und beide Seiten haben sich wieder verständigt.

SB: Gestern abend auf der Podiumsdiskussion der Grundrisse haben Sie erzählt, daß Sie und Mitglieder Ihrer Frauengruppe sich in der Türkei mit Islamistinnen getroffen haben. Welche Erfahrungen haben Sie und Ihre Freundinnen dabei gemacht? Sind die frommen Musliminnen für fortschrittliche Ziele zu gewinnen? Sie haben selbst berichtet, daß die islamistischen Frauen hinterher von den eigenen Männern heftig kritisiert wurden, weil sie sich auf das Gespräch mit Feministinnen eingelassen hatten.

PS: Ich möchte mit allen gesellschaftlichen Kräften etwas machen, mich nicht von den anderen Leuten oder anderen Teilen der Gesellschaft trennen. Deswegen ist es für mich so wichtig, auch mit Personen, die ganz anders als ich denken, in den Dialog zu treten und zu schauen, wie das funktioniert. Eigentlich ist die Hauptsache, wogegen ich ständig Widerstand leiste, die Gewalt. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich aber auch mit denen, die andere politische Vorstellungen als ich haben, auseinandersetzen. Eine solche Auseinandersetzung nicht in einer gewaltsamen, sondern in einer demokratischen Form als Dialog zu führen, finde ich sehr wichtig. Man muß sich mit den vorhandenen gesellschaftlichen Kräften auseinandersetzen wie der Segler, der, um ans Ziel zu gelangen, den Wind berücksichtigen beziehungsweise sich zunutze machen muß.

SB: Man könnte den Eindruck gewinnen, daß sich in den letzten Jahren die Kurdenfrage etwas entspannt hat, daß die kurdische Sprache vom türkischen Staat nicht mehr so heftig bekämpft wird und daß sie einen gewissen Raum in den Medien zugestanden bekommen hat, während die PKK ihrerseits bestimmte Angebote an die Regierung in Ankara gemacht hat. Trifft dieser Eindruck zu? Hat man es hier mit einer positiven Entwicklung zu tun, die auf eine langfristige Entspannung hinausläuft, oder muß man weiterhin befürchten, daß sich der Konflikt jederzeit aufschaukeln kann?

PS: Ich kann da keine positive Entwicklung erkennen, denn ich traue der regierenden AKP nicht über den Weg. Anders sieht es bei Teilen der liberalen Linken aus, die von der AKP-Regierung sehr beeindruckt sind und auf deren vermeintliche Errungenschaften verweisen. Ich glaube, daß die AKP kosmetische Zugeständnisse mit dem Ziel macht, die Forderungen der Kurden zu entkräften und letztendlich deren Willen zu brechen. Das ist genauso wie die Tatsache, daß in diesem Jahr die Linke zum erstenmal seit 32 Jahren wieder mit einer Großkundgebung auf dem historischen Taksim-Platz in Istanbul den 1. Mai feiern konnte. Zwar wurden Bilder im Fernsehen ausgestrahlt, die suggerieren sollten, auf dem Taksim-Platz könne die türkische Arbeiterschaft wieder ungehindert demonstrieren, aber dem war nicht so. Nur ganz bestimmte Teile der Linken durften den Taksim-Platz betreten. In den Seitenstraßen und Nebengassen wurde zahlreichen Menschen der Zugang verwehrt. Das war die Strategie der Polizei. Sie haben nur Teile der Linken auf den Taksim gelassen, während die anderen in den Seitenstraßen und Nebengassen zurückgeschlagen wurden. Das haben die nationalen und internationalen Medien natürlich nicht gezeigt, sondern statt dessen die Bilder von der vermeintlichen Rückeroberung des Taksim-Platzes durch die Arbeiterschaft.

SB: Also werden kleine Teilzugeständnisse gemacht oder irgendwelche PR-Maßnahmen durchgeführt, um den Eindruck zu erwecken, die Regierung gehe auf die oppositionellen Kräfte zu, während sich in Wirklichkeit nichts ändert?

PS: Genau. Das, wovor sich die AKP am meisten fürchtet, ist - und das betonen die Vertreter der Partei selbst immer wieder -, daß sich die PKK politisiert, also in dem Sinne, daß sie eine öffentliche Politik macht und nicht nur oder nicht mehr im Guerillakampf steht. Die AKP fürchtet sich am meisten davor, daß die PKK an realem politischen Einfluß gewinnt. Daran wird deutlich, daß das Problem der AKP und der politischen Führung der Türkei mit der PKK weniger in deren bewaffneten Kampf als in deren Ideen besteht.

Der aktuelle Umgang Ankaras mit der PKK erinnert mich an einen ähnlichen Vorgang aus der Gründungsära der türkischen Republik. In den letzten Jahren des Osmanischen Reichs war die Frauenbewegung mit mehreren unabhängigen Organisationen sehr stark. Und auch im Befreiungskrieg oder auch türkisch-griechischen Krieg, je nach dem, wie man es nennt, haben die Frauen eine wichtige Rolle gespielt. Aber bei der Gründung der Republik 1923 haben die Frauen nicht sofort das Wahlrecht erhalten. Erst auf Druck der Frauen ist es ihnen in den 30er Jahren zuerkannt worden. Bei der Staatsgründung gab es jedoch den Versuch der Frauen, eine eigene Partei zu gründen. Aber Atatürk hat es nicht erlaubt, sondern statt dessen die Frauen erfolgreich dazu gedrängt, einen Verein zu gründen, der dann die Pflicht auferlegt bekam, die Ideale der Republik zu verwirklichen beziehungsweise hochzuhalten. Diese Integration, diese Vereinnahmung durch den Staat war für die Führung der Frauenbewegung eine herbe Niederlage und hat praktisch zur Auflösung der Bewegung geführt.

SB: Diese "Frauen für die Republik" gibt es nach wie vor, wenn wir uns nicht irren. Sie treten in den letzten Jahren bei den großen kemalistischen Demonstrationen für den Säkularismus und gegen die Islamisierung auf, nicht wahr?

PS: So ist es. Ich würde das, was die Regierung derzeit mit den Kurden versucht, also ihnen bestimmte Strukturen aufzuoktroyieren, damit vergleichen, wie man vor mehr als 80 Jahren die unabhängigen Organisationen der türkischen Frauen kaputt gemacht und sie in diesen staatlich verordneten, republikanischen Frauenverband hineingezwängt hat. Etwas ähnliches geschieht derzeit mit den Kurden. Als Organisationsform sollen ihnen lediglich irgendwelche kleinen, folkloristischen Vereine bleiben, damit man sie nachher ausstellen kann wie in Australien die Aborigines.

SB: Frau Selek, wir bedanken uns für das ausführliche und erhellende Gespräch.

Fußnote:
1. www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/frauen/frauenbuero/34.htm

1. Juli 2009

Pınar Selek
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Mahkeme Süreci Court Process