Pınar Selek
Wer hat Angst vor Pinar Selek?
14.8.2010






Die Vorkämpferin der türkischen Demokratiebewegung steht im Fadenkreuz der Justiz



Die türkische Soziologin Pinar Selek greift mit Vorliebe unbequeme Themen auf und hat dafür auch Haft und Folter auf sich genommen. Mit der Wiederaufnahme einer gravierenden, doch längst als nichtig beigelegten Anschuldigung wurde sie Ende 2009 ins Exil getrieben.

Haft, Folter und Exil haben Pinar Selek weder den rebellischen Geist noch das Lachen austreiben können.


Haft, Folter und Exil haben Pinar Selek weder den rebellischen Geist noch das Lachen austreiben können. (Bild: Amelie Losier)


Brigitte Neumann
  14 August 2010

Die 38-jährige Pinar Selek wirkt abgekämpft, wie sie da auf ihrem Sofa sitzt. «Ich lebe derzeit in einem Albtraum und finde nicht heraus.» Das Handy meldet dezent, aber pausenlos den Empfang von SMS-Nachrichten. Gestern war sie noch in Wien. Davor in Paris, Bonn, Hamburg, Essen, Berlin. Sie füllt inzwischen jeden Saal. Pinar Selek reist durch Westeuropa und versucht öffentlichen Druck aufzubauen, Druck in eigener Sache. Sie hofft, dass er in Ankara wirksam wird, wo der oberste türkische Gerichtshof ihre vor Jahren geschlossene Akte wieder öffnen wird. Die Anklage lautet auf Landesverrat und Staatsgefährdung. Ihr droht eine Verurteilung zu 36 Jahren verschärfter Einzelhaft.

Gefährliche Recherchen

Heute bestreitet sie einen Abend in Berlin. «Immerhin werde ich hinterher im eigenen Bett schlafen.» Aber eigentlich ist es nicht das eigene, sondern ein Leihbett in einer Leihwohnung, angemietet vom deutschen Schriftstellerverband PEN. Pinar Selek, die in der Türkei bekannte Soziologin und Ikone der dortigen Demokratiebewegung, trägt jetzt den Titel «Writer in Exile». «Ich halte diese Situation aus, weil ich nicht allein bin. Die Liebe meiner Freunde trägt mich durch diese schwere Zeit.» Wir erinnern uns bei diesen Worten an einen Abend in Bonn: «Ich darf Ihnen die berühmteste türkische Feministin vorstellen, Pinar Selek», sagte der Moderator, umarmte sie lachend und fügte an: «Wir lieben sie nicht trotzdem, sondern gerade deshalb!» An diesem Abend wirkte sie nahezu heiter mit ihrem breiten Lachen, den wilden Locken, der Halskette aus grossen bunten Perlen. Dann der Kontrast: ihr sachlich vorgetragener Bericht über ihren Leidensweg, der das Mahlwerk der türkischen Justiz erkennen lässt.

1998: Pinar Selek war dabei, für ein Buchprojekt Kämpfer der verbotenen kurdischen PKK zu interviewen, als sie festgenommen wurde. Sie kam in Untersuchungshaft und wurde nach den Namen ihrer Interviewpartner befragt. Pinar Selek wollte diese nicht preisgeben und wurde gefoltert. «Mit Elektroschocks», dabei wandern ihre beiden Hände zur Brust. «Mein Glück: Wir waren siebzig in der Zelle. Ich hatte siebzig Frauen, die mich hinterher trösteten. Jetzt, wo es EU-Normen auch für türkische Gefängnisse gibt, sind die Zellen sehr viel kleiner – und damit auch der Trost nach einer Tortur.» Nach einem Monat in Untersuchungshaft erfuhr sie, was ihr konkret vorgeworfen wurde: Sie habe im Auftrag der PKK eine Bombe auf dem ägyptischen Basar in Istanbul gezündet. Tatsächlich waren bei einer Explosion dort am 9. Juli 1998 sieben Menschen zu Tode gekommen. Allerdings sagten mehrere Sachverständige übereinstimmend aus, dass die Ursache des Unglücks eine defekte Gasflasche war. Nach zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft kam Pinar Selek frei. Und im Jahr 2006 endete dieses Verfahren mit Freispruch. Das Massenblatt «Hürriyet» legte 2007 dennoch nach: Sie sei die Geliebte des PKK-Führers Öcalan. Seleks Anwälte setzten zwar sofort eine Gegendarstellung durch, aber das Gerücht macht bis heute in der Türkei die Runde.

«Für Intellektuelle in der Türkei ist es fast normal, irgendwann im Leben einmal ins Gefängnis zu kommen», sagt Pinar Selek. «Mein Vater sass viereinhalb Jahre, sein Freund, der Schriftsteller Yaşar Kemal, ebenfalls. Wenn sie mich wegen meiner Bücher festgenommen hätten, das wäre in Ordnung gewesen. Aber sie sagten, ich sei eine Terroristin und eine Frau, die sich überall herumtreibt, sich in Dinge einmischt, die sie nichts angehen.»
Ramponierte Männerseelen

Ende 2009 rollte die berüchtigte 9. Strafkammer des Obersten Kassationsgerichts in Ankara den Fall Selek wieder auf – wegen eines vermeintlichen Formfehlers. Da sie befürchten musste, sofort wieder inhaftiert zu werden, verliess Pinar Selek die Türkei in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, obwohl sie dort als Autorin beträchtliches Renommee geniesst. Gerade ist ihr viertes Kinderbuch, «Das grüne Mädchen», in Istanbul erschienen. Und ihr jüngstes Sachbuch über die türkische Armee – auf Deutsch unter dem Titel «Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt» im Orlanda-Verlag erschienen – geht in der Türkei demnächst in die vierte Auflage. 58 Wehrdienstleistende hat sie dafür interviewt, die berichten, wie sie lernten, sich auch den absurdesten Befehlen zu unterwerfen; wie sie als Rekruten Prügel einsteckten, um als Gefreite selbst welche auszuteilen. In Seleks Schlusswort heisst es: «Sehr viele spüren deutlich die wachsende Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit (ihres Männlichkeitsideals), den sich mit jeder Ohrfeige vertiefenden Zorn und die durch das Gefühl der Unzulänglichkeit ständig präsente Scham.» Der Militärdienst bringe «ramponierte Wesen» hervor, schreibt Selek, Männer, die despotisch über ihre Familien herrschen und mit denen kein demokratischer Staat zu machen ist.

Ob die manchmal hysterische Züge annehmenden innenpolitischen Reibereien in der Türkei eine Folge dieses Männlichkeitsdrills sind? «Bei uns gibt es ganz allgemein ein Problem mit der Demokratie. Und das äussert sich in den Demütigungen der Armenier, der Kurden und in der Verachtung der Frauen. Sexismus geht Hand in Hand mit Militarismus und Nationalismus. Für mich gehört das alles zusammen.» Als Beweis dient der Soziologin der Umgang mit dem türkischen Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915. Kein Wort des Bedauerns kam der Regierung Erdogan bisher über die Lippen. «Der türkische Staat ist nicht stark. Unsere Regierung ist gleichermassen schwach und gewalttätig. Das sind Eigenschaften, die es unmöglich machen, eine Schuld einzugestehen. Dafür fehlt das Selbstbewusstsein.» Entschieden zieht sie an ihrer Zigarette: «Aber ich will eine starke, demokratische Gesellschaft haben. Eine Gesellschaft, die ihre Stärken und Schwächen kennt und benennt.»
Familientradition

Pinar Selek entstammt einer Dynastie linker Demokraten. Ihr Grossvater war Gründer und später Generalsekretär der 1970 verbotenen Türkischen Arbeiterpartei. In einer Solidaritätsadresse an das deutsche PEN-Zentrum schrieb der Schriftsteller Yaşar Kemal, damals Mitgründer der Partei: «Ich bin stolz auf Pinar, wenn ich sehe, wie ähnlich sie ihrem Grossvater ist.» Seleks Vater ist ein landesweit bekannter linker Rechtsanwalt, im ersten Verfahren war er ihr Verteidiger. Jetzt ist er 81, und Seleks Schwester übernimmt das Ruder. Vor wenigen Wochen hat sie den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gebracht. «Sie sehen, die Solidarität meiner Familie ist ganz praktisch und konkret.»

Ob ihre politische Arbeit all die Opfer wert war, die sie dafür bringen muss? Sie schaut irritiert: «Ich mache es für mich, für meine Ehre, für mein Glück. Und dafür, dass ich mich im Spiegel anschauen kann und zufrieden bin. Im Moment habe ich Sorgen, aber im Spiegel lächle ich mir zu. Deshalb mache ich das.»

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Mahkeme Süreci Court Process